Sonntag, 21. Mai 2000


Jack Gerschwiler: Ein halbes Jahrhundert die Entwicklung geprägt

 

101 Jahre mit Elefantenhaut

Mit Jack Gerschwiler ist ein Trainerdoyen und aussergewöhnlicher Mensch gestorben

GENF – "Es braucht eine Elefantenhaut in dieser Sportart voller Intrigen", pflegte Jack Gerschwiler zu sagen, und ein schalkhaftes Lächeln umzog seinen Mund. Er muss eine besonders dicke Haut gehabt haben: Mit 86 Jahren stand er noch ab und zu auf dem Eis, warf sein waches Auge auf die rar gewordenen Schweizer Hoffnungen. Nur Wettkämpfe besuchte er damals schon keine mehr. Mit den "Halunken", wie er die Preisrichter einmal bezeichnete, wollte er nichts mehr zu tun haben. Vor zwei Wochen ist der Doyen unter den Eislauftrainern gestorben. Im September wäre der Thurgauer 102 Jahre alt geworden.

Jack Gerschwiler, das war ein aussergewöhnlicher Mensch. Nicht nur, weil er als einer von ganz wenigen Schweizern in den USA in die "Ruhmeshalle des Sports" aufgenommen wurde. Mit wenigen Ausnahmen und bis auf die letzten Jahre, die er im vornehmen Genfer Altersheim "Résidence Notre Dame" verbrachte - die Stadt Genf übernahm die Kosten -, vollzog sich sein Leben grossenteils in Hotelzimmern. Jahrzehntelang im Hotel Moderne in Genf, von wo aus er die Casinos Europas bereiste. Baden-Baden, das war sein zweites Zuhause, und drei Tage vor seinem Tod, am 1. Mai, als er mit dem Genfer Trainer Peter Grütter am See bei einer Glace sass und die Reklame des "Grand Casino" sah, meinte er noch spitzbübisch: "Die haben an mir nichts verdient." Gerschwiler spielte mit System und kleinen Einsätzen, das letzte Mal mit 98 in Divonne. Fein säuberlich notierte er die Zahlenreihen in vielen Heften.

Der Trainertätigkeit hatte sich Jack Gerschwiler, der einst ein guter Kunstturner war, nach erfolgter Sportlehrerausbildung in Berlin zugewandt. Er war ein Tüftler, der in den Dreissigerjahren die Kufen der Schlittschuhe revolutionierte und die Grundlagen für eine Technik legte, die heute noch angewandt wird. "Ohne ihn hätten wir heute vielleicht überhaupt niemanden mehr", sagt Grütter, der es wissen muss. Mit dem Junioren-WM-Zehnten Stéphane Lambiel trainiert er eine der grösseren Schweizer Hoffnungen. Gerschwilers berühmteste Schülerinnen waren Cecilia Colledge und Jeannette Altwegg aus Grossbritannien sowie Karin Iten. Sie alle brachten es zu Weltmeisterehren, Altwegg 1952 sogar zu olympischem Gold.

Die Winterthurerin Karin Iten gewann zwar "nur" Pflicht-Gold, doch von ihr schwärmte er bis zuletzt: "Sie konnte gleiten wie keine andere vor oder nach ihr." Offizieller Trainer von Denise Biellmann war er zwar nie, doch wer weiss, ob die Zürcherin ohne seinen selbstlosen Einsatz die letzten Klippen vor dem Gewinn der Europa- und Weltmeisterschaft 1981 umfahren hätte. Jack Gerschwiler war nicht der Einzige seiner Familie, der Eislauftrainer wurde: Sein jüngerer Bruder Arnold, der als 86-Jähriger in London lebt, und sein 79-jähriger Neffe Hans, der 1947 Weltmeister wurde und sich danach in Long Island (USA) niederliess, schlugen denselben Weg ein.

Dass er auch eine Schwester hat, die noch lebt, erfuhren seine Freunde erst in den letzten Jahren: Jack Gerschwiler hatte sie zuvor nicht sehen wollen. So liebenswürdig er sich geben konnte, so nachtragend konnte er sein. Auch seinen Abschied wollte er nicht publik gemacht haben. "Es soll kein Aufheben um mich gemacht werden." Erst nach seiner Einäscherung durfte er mitgeteilt werden.

Dieter Ringhofer

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